HNA, 23. April 2020
INTERVIEW – Philosophin und Lehrerin Angela Reiss über positives Denken trotz Krise
VON MATTHIAS LOHR
Kassel – Wie übersteht man die Coronakrise, ohne zu verzweifeln angesichts der Aussicht auf einen monatelangen Shutdown und eine lang anhaltende Wirtschaftskrise? Welche Antworten hat die Philosophie darauf? Wir haben mit Angela Reiss gesprochen, die an der Uni Kassel lehrt sowie Deutsch und Philosophie am Engelsburg-Gymnasium unterrichtet.
Sie bringen angehenden Lehrern bei, wie man das Thema Glück im Ethik- und Philosophieunterricht behandelt. Sie sind also eine Glücksexpertin. Was bedeutet Glück in der Coronakrise?
Glück bekommt jetzt eine ganz neue Bedeutung. Ganz allgemein gibt es zwei Sorten von Glück. Auf der einen Seite das kurzfristige Glück, das uns etwa die Werbung durch Produkte vermitteln will wie Reisen, Geselligkeit und Konsum. Durch Corona ist diese kurzfristige Glückserfüllung stillgelegt. Wir können zwar noch einsam im Internet einkaufen, aber nicht reisen und auch keine Partys feiern. Die zweite Art von Glück ist nicht episodisch, sondern eine langfristige Zufriedenheit mit den Entscheidungen des Lebens. Jeder Mensch will ein gutes Leben führen. Darum geht es etwa im Ethikunterricht, der die Schüler dazu bringen will, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Denn eben das unterscheidet den Menschen vom Tier, das nur lebt, aber keine bewussten Entscheidungen trifft.
Das heißt: In dieser Krise müssen wir oft auf kurzfristiges Glück verzichten, aber wir können nachhaltig glücklich werden, indem wir für alte Menschen einkaufen oder Schutzmasken für Pfleger nähen?
Das könnte man so sehen. Die Hilfsbereitschaft anderen gegenüber ist etwas anderes, als wenn ich einen guten Wein trinke. Ich entwickle eine Tugend und werde – pathetisch gesprochen – ein bisschen ein anderer Mensch. Das wird nach Corona nicht einfach vergessen sein.
Trotzdem fällt es vielen schwer, positiv nach vorn zu schauen.
Das kann ich nachvollziehen. Wenn man etwa die Bilder aus Italien mit Särgen auf Armee-Transportern sieht, wird einem klar: Der Tod rückt näher. Die Endlichkeit des Lebens wird einem vor Augen geführt. Aber gerade das kann einen zur Frage führen: Wie fülle ich mein Leben? Viele meiner Schüler erleben die Krise auch als Erleichterung, weil das ewige Reden und Kommunizieren jetzt heruntergefahren ist. Man muss nicht mehr ständig mit jedem verbunden sein, sondern kann innehalten. Dieses Innehalten ist die klassische Haltung der Philosophie.
Ein Gastwirt, der nicht weiß, wie er seine Familie ernähren soll, wird kein großes Interesse am Innehalten haben.
Das stimmt. Es stehen Existenzen auf dem Spiel. Allerdings haben wir in unserer Gesellschaft schon Glück als Fügung gehabt: das Glück, in der Lotterie des Lebens in einem Land geboren zu sein, in dem niemand hungern muss und es eine gute Gesundheitsversorgung gibt. Zudem haben Studien festgestellt, dass das subjektiv empfundene Glück ab einem gewissen Lebensstandard relativ unabhängig vom Wirtschaftswachstum ist. In keiner Industrienation wächst das Glücksempfinden proportional mit dem Wohlstand. Darum würde ich empfehlen: Reiner Optimismus und reiner Pessimismus sind nicht gut. Wir brauchen gerade jetzt eine heitere Skepsis. Man sollte positiv gestimmt bleiben.
Es sagt sich so einfach: Denken Sie positiv. Haben Sie einen Tipp, wie das geht?
Man sollte in sich hinein lauschen und überlegen, wann man glücklich war. Wahrscheinlich wird jeder darauf kommen, dass es nicht nur das kurzfristige Glück ist, das einen befriedigt. Das wäre reiner Hedonismus. Reisen etwa wird uns immer als schönste Zeit des Jahres angepriesen, geht aber oft schief und artet in Stress aus, weil man sich selbst überallhin mitnimmt. Der momentane Zwangsverzicht birgt die Chance, unabhängig von solchen Glücksangeboten zu werden. Langfristiges Glück liegt etwa in der Liebe, Freundschaft und Familie.
Glauben Sie, dass Corona uns nachhaltig verändert?
Ja, ich hoffe es sehr. Wir sehen gerade, dass die Gesellschaften, die am stärksten auf den Liberalismus und nur wenig auf die Gemeinsamkeit gesetzt haben, jetzt am ärmsten dran sind – wie die USA und Großbritannien. Unser Wohlfahrtsstaat erlebt eine Sternstunde. Es war richtig, dass wir diesen Weg gegangen sind und den Menschen sich nicht selbst überlassen haben.
Bei Ihnen überwiegt also Optimismus.
Natürlich wird in der Krise auch ein möglicher Widerspruch deutlich – zwischen dem individuellen Glück und dem Wohlergehen der Gesellschaft. In unserer Kultur ist Glück eng mit persönlicher Freiheit verbunden. Die massiven Einschränkungen der verfassungsmäßigen Freiheiten dürfen wirklich nur temporär sein. Die jungen Menschen an Schule und Universität, mit denen ich im Moment spreche, haben auch die Hoffnung, dass die Gesellschaft angesichts der Krise innehält und mehr versucht, als nur zum alten Zustand zurückzukehren. Zum Beispiel sollte sie das Glück zukünftiger Generationen nicht aus dem Auge lassen. Gegen die Auswirkungen des Klimawandels wird sich kein Impfstoff finden lassen.