340 junge Menschen diskutieren beim hessischen Demokratie-Tag an der Engelsburg über Mindestwahlalter und Partizipationsmöglichkeiten
Der Abschluss des zwölften hessischen Demokratietages am Engelsburg-Gymnasium in Kassel machte allen 340 Teilnehmerinnen und Teilnehmern noch einmal deutlich, worum es an diesem Tag ging. Fünf Schülerinnen und Schüler fielen da dem hessischen Kultusminister Professor Dr. Alexander Lorz in Wort und demonstrieren für die Legitimation der Fridays for Future-Bewegung. Sie nutzen die durchs Grundgesetz gesicherte Meinungsfreiheit. Und Lorz reagierte besonnen: „Sie haben Mut. Sie kämpfen für eine gute Idee. Das verdient Anerkennung.“
Ein Jahr lang hatten Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer der Engelsburg den Demokratietag mit vorbereitet. Eingeladen waren Vertreterinnen und Vertreter von Schulen, Jugendeinrichtungen, -organisationen und -verbänden, Parteien und Behörden. „Demokratie muss auch im Alltag gelingen. Deshalb bietet der Demokratietag eine gute Gelegenheit, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen“, betonte der Leiter des Projekts Gewaltprävention und Demokratielernen am hessischen Kultusministerium, Dr. Bernt Gebauer. Und Stadtrat Hajo Schuy, der die Fridyas for Future-Bewegung unter Applaus befürwortete, erklärte: „Wir haben Glück, in einer Demokratie zu leben. Halten wir dieses Glück mit beiden Händen fest.“
Dass Demokratie nicht selbstverständlich ist, machte der beeindruckende Auftritt des syrisch-palästinensischen Pianisten Aeham Ahmad zum Auftakt und Abschluss des Demokratietages deutlich. Lautmalerisch brachte er die Unterdrückung und Gewalt zum Ausdruck, die er erfahren hat. Die Fotos, wie er mit dem Klavier zwischen den Trümmern im Flüchtlingslager Jarmuk sitzt und musiziert, gingen um die Welt. „Für uns gab es zwei Möglichkeiten: Sich einer der Kriegsparteien anzuschließen oder auf den Tod zu warten. Ich beschloss, singend auf den Tod zu warten“, las Barbara Schiller aus seiner Biografie. Die Botschaft seiner Musik ist, dass der Überlebenswille der Menschen und seine Sehnsucht nach Frieden unbesiegbar sind.
„Fragiles Gebilde“
Kultusminister Alexander Lorz unterstrich: „Nur zehn Prozent aller Staaten weltweit sind gut funktionierende Demokratien. Daran sieht man, wie fragil solch ein Gebilde ist.“ Man müsse immer wieder darum ringen und die Demokratie verteidigen. Auch gegen Strömungen von rechts.
Und Schulleiter Thorsten Prinz führte aus, warum das Thema auch an der Engelsburg wichtig sei: „Wir sind eine katholische Schule. Die katholische Kirche tritt nicht gerade als besonders demokratisch in Erscheinung. Aber die Engelsburg wurde von der Ordensgemeinschaft der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel vor 127 Jahren als höhere Mädchenschule gegründet, um Frauen Zugang zur Bildung und zur Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Schon deshalb ist uns Demokratie ein Herzensanliegen.“ Das Bestreben nach Partizipation von Jugendlichen an gesellschaftlichen Debatten spiegele sich unter anderem in der Anerkennung als UNESCO-Projektschule wider. Und im Leitbild der Schule, in dem es heißt: „Wir wollen unsere Werte inner- und außerhalb der Schule leben und damit einen Beitrag zu einer solidarischen Gesellschaft leisten.“
In einer Podiumsdiskussion tauschten anschließend Vertreterinnen und Vertreter der Jugendorganisationen von CDU, SPD, Grünen, FDP und Die Linke ihre Meiningen zur Teilhabe von Jugendlichen an demokratischen Entscheidungen aus. Schon die Organisation im Vorfeld war ein Meinungsbildungs-Prozess: Lädt man auch die Junge Alternative für Deutschland, die Jugendorganisation der AfD, ein oder nicht? Man entschied sich dafür, schließlich sei die AfD demokratisch gewählt – doch gab es keine Reaktion.
Keine Grenze für das Wahlalter?
Schnell wurden die unterschiedlichen Positionen der Parteien deutlich. Etwa zum Wahlalter: „Ich finde, das Alter ist mit der Volljährigkeit gut angesetzt. Dann ist man auch strafmündig und für sich selbst verantwortlich“, sagte Tim Wrotny, Kreisvorsitzender der Jungen Union Kassel. Dem entgegnete Thomas Volmer, Mitglied im Vorstand der Grünen Jugend Kassel: „Warum setzen wir für das Wahlrecht überhaupt ein Mindestalter an? Warum sollte nicht jeder wählen gehen dürfen, der sich dazu in der Lage fühlt?“ Die Reife dazu ließe sich nicht am Alter festmachen.
Fridays for Future begrüßten alle fünf Parteivertreterinnen und -Vertreter. Wie weit man aber mit zivilem Ungehorsam auf seine Ziele hinweisen dürfe, wurde schon wieder unterschiedlich gesehen. Johanna Kindler von den Jusos verteidigte zum Beispiel Sitzblockaden gegen Aufmärsche rechtsextremer Organisationen. Thomas Seifert von der Jungen Linken toleriert auch Hausbesetzungen, wenn Immobilien für Spekulationen genutzt würden, anstatt sie als Mietraum zur Verfügung zu stellen. Dem Paragraphen „Eigentum verpflichtet“ aus dem Grundgesetz hielt der Jungliberale Jonas Bach wiederum entgegen, dass das Grundgesetz auch Eigentum schütze.
Und so war der ganze Tag geprägt von Diskussionen und Debatten, vom Ringen um Meinungen und Mehrheiten.
Vielfältige Workshops
Besonders geübt wurde das im Workshop Debattieren, den Engelsburg-Lehrer Henning Eickmeyer anbot. Er leitet den Debattierclub für Schülerinnen und Schüler der achten bis elften Jahrgangsstufe an der Engelsburg. 15 Jugendliche fanden sich bei seinem Workshop ein. Sie diskutierten unter anderem die Frage, ob ein Auslandsjahr in der Oberstufe eines Gymnasiums Pflicht werden solle. Dabei ging ums Argumentieren und ebenso ums Zuhören und Verstehen.
„Es war klasse, dass wir das, was wir uns hier erst erarbeitet haben, sofort ausprobieren können“, sagt Marc Schumacher, der als Vertreter des Jugendparlamentes Friedrichsdorf am Demokratietag teilnahm. Und Jule Höck vom Schwalmgymnasium in Schwalmstadt meint: „Debattieren macht man an den Schulen viel zu wenig. Dabei sehen wir doch ständig Talkrunden im Fernsehen.“
In anderen Workshops ging es um Diskriminierung, Menschenrechte, Partizipationsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in der Schule oder Kunst und Frieden. Eine Gruppe setzte das Thema Demokratie sogar tänzerisch und performativ in Szene. Und vor der Aula des Engelsburg-Gymnasiums gestalteten Schüler ganz demokratisch die Außenwand mit Klebefolien.
Engelsburg-Schülerin Anastasia Lopatta resümiert: „Ich finde toll, was hier alles stattfindet. Es ist cool, mit so vielen Menschen ins Gespräch zu kommen.“ Als Workshop hatte sie mit ihrer Freundin Emma Mayer das Escape-Room-Spiel besucht. „Da waren wir mit anderen Jugendlichen zusammen, die wir gar nicht kannten – und mussten demokratisch zu Entscheidungen kommen“, erzählt die 14-Jährige.
Demo für Fridays for Future
Entscheidungen wird es auch im Hinblick auf die weitere Akzeptanz der Fridyas for Future-Demonstrationen während der Schulzeit geben. Die waren beim Abschluss im Gloria-Kino wieder Thema, als einige Schüler mit ihrem Transparent auf die Bühne traten. Darauf stand: „Wir wissen selber, wann unsere Ziele erreicht sind.“ Eine Anspielung auf die Äußerung des hessischen Kultusministers, dass die Absicht der Bewegung, Aufmerksamkeit für den Klimaschutz zu erzielen, längst in der Politik und Öffentlichkeit angekommen sei. „Ich sehe Euer Anliegen und ich nehme Euch ernst“, versprach Professor Dr. Alexander Lorz, empfahl den Jugendlichen aber, jetzt neue Formen der Debatte zu finden. Auf Dauer sei das Fernbleiben von der Schule nicht zu rechtfertigen.
Die Schüler entgegneten: „Aber was ist denn bis jetzt politisch passiert? Viel zu wenig!“ Und so wird das Thema nicht nur an der Engelsburg lebendig bleiben. Es wird auch mitgenommen in die Fachtagung der UNESCO-Projektschulen, die sich direkt an den Demokratietag in Kassel anschließt. „Die Erfahrungen und Ergebnisse dieses Tages fließen in unsere Tagung mit ein“, erklärte Klaus Schilling, Bundeskoordinator des Netzwerks der UNESCO-Projektschulen der Deutschen UNESCO-Kommission. Er lobte: „Die Demokratietage sind mittlerweile ein Ideenlabor und Leuchtturm der Demokratiebildung in Hessen.“